Wolfgang Sebastian Baur
Von allerlei Schnäbeln und wie sie gewachsen sind.
Traditionelle und moderne Dialektlyrik in der Gegenüberstellung.
Graphie versus Phonie. Die hochdeutsche Orthographie ist uns seit Volkschultagen mehr oder weniger vertraut. Wir verwenden die Zeichenfolge „sch“, wenn wir das Wort „Schuhsohle“ schreiben wollen. Wir dehnen das „u“ und das „o“ durch Anfügung von „h“. Wir zeichen den Wortanfang mit einem Großbuchstaben aus, eine Marotte, die uns der Barock eingebrockt hat, an der wir jedoch bis heute festhalten. Das alles erscheint uns logisch und natürlich, obwohl es auch ganz anders sein könnte, denn wir gehorchen einer Konvention. Wir sind im Joch der Graphie und merken es nicht. Auch das Wort „Schriftsprache“ hat einen normativen Charakter. Es suggeriert, die geschriebene Sprache sei die wahre und richtige, und deren Beherrschung (!) sei obligatorisch.
Mundart sehnt sich nicht nach Verschriftung. Als Art des Mundes, als Ausdrucksweise der Mündlichkeit, pfeift sie auf alle Norm, ist sie doch per definitionem frei von Schriftlichkeit. Zwar nicht von internem grammatischem Regelwerk, doch ihrem Wesen nach frei. Daher rührt ihr subversiver Charakter, ihre Eigenständigkeit. Man tut ihr Gewalt an, will man sie zähmen und in den Käfig der Schrift sperren. Zu ihrer Aufbewahrung aber bleibt keine andere Wahl. Allenfalls die Qual der Wahl, denn Gesprochenes dingfest zu machen hat seinen Preis. Der wird mit dem Makel des Ungefähren, Ungenügenden, Widersprüchlichen bezahlt. So weisen die Schriftbilder der Beispieltexte ein buntes Nebeneinander von Mitteln und Verfahren auf. Man verwendet diakritische Zeichen; kontrahiert mehrere Wörtern zu einem; längt Vokale mit Dehnungs-H oder durch Verdopplung; wählt konventionelle Orthographie oder phonetisierende Notation; man schreibt groß oder klein; handhabt die Interpunktion konsequent oder unsystematisch. Dies führt zu Systembrüchen und Überschneidungen. Soviel jedoch lässt sich sagen: Die traditionelle Mundartdichtung neigt zur Graphie. Das Resultat ist sprechende Schrift.
Die moderne Mundartdichtung bevorzugt die Phonie. Das Resultat ist geschriebener Schall.
Museal versus zeitgemäß. Die Sprache traditioneller Mundartlyrik wirkt oft umständlich und antiquiert. Sie ist gespickt mit veralteten Ausdrücken. Es sind kernige Wörter, die als Fanale der Volkstümlichkeit im Text ein Eigenleben führen. Sie zeigen auf, sie recken sich stolz aus der Textzeile, als wollten sie sagen: „Seht her, wir sind nicht umzubringen, wir leben noch!“ Traditionelle Mundartautoren erbarmen sich der vom Aussterben bedrohten Wörter und bringen sie schützend in Ihren Textgehegen unter. Sie betrachten obsolete Ausdrücke als Garanten der Authentizität, in Verkennung der reinigenden Funktion, die der Sprachwandel ausübt. Die ältlichen Wörter erscheinen daher wie museale Gegenstände aus einer untergegangenen Welt. Wo das dichterische Medium nicht gerade blut-und-bodenständig daherkommt, da geriert es sich volkskundlich-archaisierend. „Fremde“, also anderen Sprachen entlehnte Wörter, werden gern diskriminierend verwendet.
In traditionellen Mundarttexten verhält sich der Dialekt zur Hochsprache wie der Menschenaffe zum Menschen; als geringerer Bruder der Hochsprache. Als Bruder Lustig. Selbst im Dialekt verharrt man im Bann der hochsprachlichen Norm. Dieser zollt man insgeheim Respekt. Man schaut auf zu ihr. Man sucht ihre Nähe. Indem man im Dialekt schreibt, will man suggerieren, es sei bloß ein Ausrutscher, dessentwegen man augenzwinkernd um Nachsicht bittet. So etwas bleibt nicht ohne Konsequenz für die Strategie der Verschriftlichung: Heraus kommt eine Quasi-Hochsprache im Tarngewand des Dialekts.
Moderne Mundartautoren hingegen bedienen sich gangbarer Sprachwährung. Das Ziel ist Allgemeinverständlichkeit, nicht Ausgrenzung. Man will unter seinen Lesern keinen Club stiften. Man strebt nicht die Bildung einer inneren Gemeinde an, die nur dem Zugang gewährt, der die Losung kennt. Man ist für Demokratie unter den Wörtern. Lehnwörter sind willkommen, wenn sie in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind und den Gegenstand treffender bezeichnet als das entsprechende deutsche Dialektwort. Der Dialekt koppelt sich von der Hochsprache ab und wird zum eigenständigen lyrischen Medium.
Reim versus Rhythmus. In der traditionellen Mundartlyrik ist „gedichtet“ gleichbedeutend mit „gereimt“. Die Aussage des Textes muss sich dem Korsett des Reims fügen. Er hat das Sagen. Mit dem Text macht sich der Dichter einen Reim auf seine Welt. Auch wenn das Ergebnis arg daherknittelt, ist ihm die Bewunderung seines Publikums sicher.
Der moderne Dialektdichter experimentiert mit verschiedenen Formen und behält sich den Reim als Möglichkeit.
Private Person versus Lyrisches Ich. Der traditionelle Mundartautor spricht als physische Person mit seinem Text die physische Person des Lesers an. Er sieht sich als dessen Vertrauter, Freund, Mentor. Er meint es gut mit ihm. Er macht ihm Mut, lenkt ihn auf den rechten Weg, verhilft ihm zur Einsicht. Der Text hat daher meist die Form der Sentenz, der Empfehlung, des Appells; er ist das Sprachrohr des Autors. Der Text sagt, was der Autor denkt, woran er glaubt, wofür er einsteht, wozu er sich bekennt. Er strahlt unbeirrbare Gewissheit aus, Zweifel sind ihm wesensfremd. Er ist Ausdruck des Wertesystems, in dem der Autor sich aufgehoben weiß. Er ist auf dem richtigen, ja rechten Weg. Seine Gewissheit ist unerschütterlich.
Im modernen Mundartgedicht ist das lyrische Ich eine Instanz, die sich zwar aus der privaten Person des Dichters speist, jedoch nicht mit ihr identisch ist; ihre Aussage ist daher nicht deckungsgleich mit den Ansichten des Dichters. Das Gedicht hat eine eigene Stimme. Es kann sprechen, wenn es gefragt wird.
Fake versus echt. Traditioneller Auffassung gemäß beansprucht der Dialekt waschecht zu sein, unverblümt und gerade heraus zu sagen, was Sache ist. Der deutschen Hoch- oder Standardsprache wird unterstellt, sie sei dazu nicht imstande. Hat man sie doch so oft als Sprache des Amtes, des Gesetzes, der Verordnung, der Vorschrift, des leidenschaftslosen Berichts erfahren; man empfindet sie als ein kaltes, herzloses, ja unmenschliches Herrschafts- und Korrektionsinstrument. Man traut ihr nicht über den Weg, ist sie doch eine Autorität und aus der Sprache des Amtes geboren. (Doch was für kraftvolle und lebendige Sprachgebilde hat Meister Luther nicht aus der vermeintlich nüchternen sächsischen Kanzeleysprache gezaubert!) Billigt man der Hochsprache zu, großräumig verstanden zu werden, spricht man ihr zugleich die Kompetenz zur Abbildung intimer Zustände und Vorgänge ab. Der Dialektsprecher, so wird unterstellt, spreche aus, was er denkt; die Hochsprache hingegen halte mit ihrer Meinung hinterm Berg. Dass Hochsprache sich von regionalem Wortgut ernährt, sich aus ihm erneuert, wird gern übersehen.
Moderne Dialektdichter stehen nicht in Konkurrenz zur Hochsprache. Sie benützen den Dialekt als Ausdrucksform der Region, aus der sie stammen. Es geht ihnen nicht um Lokalkolorit. Ihre Sprache wirkt unangestrengt, direkt, wahrhaftig. Sie ist der Realität, die sie beschreibt, angemessen. Sie erhebt nicht den Anspruch „original“ zu sein wie ein Käse mit Herkunftsgarantiesiegel. Sie ist lebensecht, sie hat eine eigene Art, die andere Eigenarten respektiert. Sie bemüht sich um redliche Abbildung des Alltagslebens. Moderne Dialektdichter haben nicht das Bedürfnis, sich von der Mundart zu distanzieren, sich über sie lustig zu machen oder sich mit ihr zu brüsten. Sie empfinden es nicht als Verrat, wenn sie sich parallel zu ihr der Hochsprache bedienen.
Beharrung versus Wandel. Die traditionelle Dialektlyrik sieht sich als Bewahrerin überkommener Strukturen. Sie neigt dazu, Früheres besser zu finden als Heutiges. Die lästige Gegenwart wird mit Abscheu oder Resignation zur Kenntnis genommen und weitgehend ausgeblendet, sie dient allenfalls als Folie für ätzende Kritik. Sie ist nur ein blasser Abglanz früherer Schönheit. Vergangenheit erscheint in mildem Licht. Die ungewisse Zukunft wird gefürchtet. Die vorherrschende Grundstimmung ist die Nostalgie, regiert vom Motto: „Früher war alles besser und schöner“.
Die modernen Mundartdichtung geht mit der Zeit. Sie misst Gegenwart nicht an Vergangenheit, leitet daraus keine moralisierenden Empfehlungen und Verhaltensmaximen für die Zukunft ab. Sie nimmt wahr. Sie schaut genau hin auf das, was ist. Ihre Grundhaltung ist Erinnerung, basierend auf der Erkenntnis: „Früher war Vieles anders, aber deshalb nicht unbedingt besser und schöner.“
Auslachen versus Anlachen. Humor ist ein komisches Ding. Lustige Leute lachen, meinen traditionelle Mundartdichter. Sie werden selbst oft als lustig empfunden, oder sie finden sich selbst lustig. Man sagt von ihnen, sie haben Humor. Je lauter das Lachen, desto größer der Humor. Sie sind gut aufgelegt. In einer geordneten Welt, wo alles seinen Platz hat, ist gut lachen. Traditionelle Dialektdichter brauchen ein Objekt, über das sie lachen. Das Objekt wird als humorlos empfunden, weil es nicht weiß, dass es lächerlich ist. Das Lachen kann mitleidig sein, herablassend, besserwisserisch, schadenfroh, spöttisch und vieles mehr. Das Objekt bleibt verlacht zurück, während die Meute der Lacher weiter zieht. Traditionelle Mundartlacher suchen stets Mitlacher. Sie brauchen Komplizen. Allein macht ihnen das Lachen keinen Spaß. Ihr Lachen weist immer auf Lachhaftes hin. Sie sind überzeugt, dass sie mit ihrem Lachen im Recht sind. Sie führen eine Gruppe von Lachern an, die genau in die Richtung lacht, in die gezeigt wird. Denn dort gibt es etwas zu lachen. Über sich selbst lachen sie so gut wie nie. Bedeutsam für den Lachanlass ist auch das Gefälle zwischen Lacher und Belachtem. Man lacht abwärts zur Unterschicht oder hinauf zum Stadtbürgertum. Am größten ist das Gefälle, wenn die Sonne vom Himmel herunterlacht. Das macht sie in vielen traditionellen Mundartgedichten. Das Lachen ist vertikal.
Moderne Mundartdichter lachen allenfalls an, nicht aus. Ihr Lachen kann freundlich, heiter, bitter sein, verzweifelt, hinterfotzig, einsam. Aber es ist gleichberechtigt und solidarisch. Sie lachen wie Kinder oder wie Kater Karlo, der dabei auch noch über sich selbst lacht. Das Lachen ist horizontal.
Stereotyp versus Charakter. Traditionelle Mundartgedichte sind von klischeehaft gezeichneten Gestalten bewohnt, die der Belustigung des Leserpublikums dienen, die geduldet werden ob ihres Unterhaltungswerts. Sie sind herkunftslos, geschichtslos, ohne biographischen Hintergrund. Sie sind entweder spindeldürr oder unmäßig dick. Sie haben eine große Nase oder einen Buckel. Sie stottern oder hinken. Es sind Trunkenbolde, Faulenzer, Schlawiner, Käuze, Spinner, arme Schlucker, Wirtshausphilosophen. Säufer, die die Wahrheit sprechen; liebenswerte Gauner, denen man nicht böse sein kann; naseweise Touristen, die dumme Fragen stellen, auf die man keck und auftrumpfend antwortet. Man hält sich zugute, dass man ein weites Herz für sie habe. Das Innere der Figuren bleibt unerforscht. Es sind Außenansichten von Zerrbildern.
In modernen Mundarttexten leben Menschen. Sie bewahren ihre humanen Züge selbst in skizzenhafter und karikierter Form. Sie sind sozial verortet. Ihr Verhalten wird vor dem Hintergrund ihres gesellschaftlichen Seins begreifbar. Sie erfahren Verständnis für ihre Existenz am Rand der Gesellschaft. Ihr Habitus, Ihre Sprachlosigkeit sind gesellschaftlich motiviert, nicht Folge mangelnden Wohlverhaltens. Es sind Innenansichten von Individuen.
Sentimental versus gefühlvoll. In traditionellen Mundarttexten tauchen Gefühle und Empfindungen stets in unangemessener Form auf. Entweder grotesk übertrieben oder stark gezähmt. Das macht sie unglaubwürdig. Sie wirken pathetisch und dadurch lächerlich. Es sind bloße Gefühlsattrappen. Gefühlsduselei. Traditionelle Mundartautoren sind Titanen des Frohsinns, Giganten der Heiterkeit. Zorn und Empörung bleiben bei ihnen bloße Attitüde. Sie beißen nicht, sie wollen nur spielen. Sie pfeifen lieber allein im Wald, als dass sie sich fürchten. Lust kommt bei ihnen nur als Lustigkeit vor, als Wein, Weib und Gesang. Darüber lässt sich trefflich Gedichte schreiben
Der moderne Mundartdichter hat keine Angst vor echtem Gefühl. Er ist seinen Trieben, Ängsten und Sehnsüchten, seiner Wut schutzlos ausgeliefert. Er stattet die Charaktere seiner Texte damit aus. Der Tod lugt ihm dabei über die Schulter. Daran hat er sich gewöhnt. Säuft er? Ist er unbeweibt? Ist ihm das Singen vergangen? Beste Voraussetzungen für ihn zum Dichten.
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FILADRESSA 07. Kontexte der Südtiroler Literatur. Hrsg. Martin Kolozs. Bozen: Edition Raetia, 2011.